Wenn die  Liebe stirbt

Wenn unser Lebenspartner schwer oder gar lebensbedrohlich erkrankt, wir befürchten müssen, dass mit dieser Krankheit sein Leben zu Ende geht, wird uns oft zum aller ersten Mal richtig bewusst und deutlich klar, wie begrenzt unsere gemeinsame Lebenszeit/Lebensweg ist. Vermutlich kommt der angsterfüllte Gedanke auf, dass der gemeinsame Lebensweg, den wir in Liebe mit unserem Partner über Jahre hinweg beschritten haben, seinem Ende entgegen geht.

Wir kämpfen und bangen gemeinsam mit unserem Partner um sein Leben, denn er ist der Mensch, dem über mehr oder weniger lange Zeit unsere tiefe Liebe gilt. Wir stehen ihm zur Seite, begleiten ihn bei Arztbesuchen und auch im Krankenhaus sind wir Stunde um Stunde an seiner Seite, so oft wir nur können. Und manchmal beginnt so ein leiser Abschied, den wir zunächst nicht einmal ahnen und realisieren.

Vielleicht wollen und können wir diesen Gedanken an einen Abschied auch gar nicht zulassen, denn wir lieben unseren Partner und möchten ihn für immer bei uns behalten, ihn festhalten. Wir können den Gedanken, dass es unsere letzte gemeinsame Zeit ist, einfach nicht ertragen.

Vielleicht ist es auch ein Schutzmechanismus der uns dabei hilft, solche End-Gedanken zu verdrängen, damit wir nicht in Panik verfallen, oder unsere Kraft verlieren, die unser Partner insbesondere jetzt, wo er schwer erkrankt ist, braucht und die ihm Halt gibt. Niemand könnte uns in diesen akuten und schlimmen Situationen sagen, ob uns überhaupt noch gemeinsame Zeit mit unserem Partner bleibt oder wie viel Zeit uns noch bleibt.

Nachdem mein Mann zwei Jahre nach der Krebsdiagnose gestorben war, fiel ich in ein großes, tiefes dunkles Loch (auf anderen Seiten dieser HP schrieb ich bereits ganz ausführlich über diese Zeit unmittelbar nach seinem Tod, deshalb möchte ich es hier nicht noch mal vertiefen).

 

Jahre später, als ich aus diesem tiefen Loch bis hinauf an den Rand gekrabbelt war und sogar über diesen Rand hinaus schauen konnte, da sah ich auf einmal etwas ganz besonderes, etwas anderes als nur Wut und Trauer. Ich erkannte plötzlich, dass mein Mann und ich zum Abschluss unseres gemeinsamen Weges noch ein sehr kostbares Geschenk erhalten hatten. Dieses Geschenk waren zwei Jahre des Abschieds von einander. Es waren zwei schmerzhafte und traurige, aber trotz allem auch wunderschöne und sehr intensive Jahre die uns noch vergönnt waren.

Als ich damals in jener Zeit der Trauer, so darüber nachdachte, dass wir das große Glück hatten uns voneinander verabschieden zu können, welches nicht jedem Sterbenden und Hinterbliebenen gegeben ist, empfand ich wirklich große Dankbarkeit in mir für diese kostbare Zeit unseres Abschieds von einander.

Obwohl die Krebsdiagnose eine ohnmächtige Herausforderung in allen Bereichen war, muss ich sagen, dass wir in diesen zwei Jahren des langsamen Abschieds noch sehr viele glückliche Momente zusammen verbracht haben. Von diesen kostbaren Momenten möchte ich nicht eine einzige Sekunde missen. Auch heute noch erinnere ich mich in tiefempfundener Dankbarkeit an jeden einzelnen dieser wundervollen, liebevollen Momente und ich denke, mein verstorbener Mann und ich haben diese Zeit unbewusste genutzt, um nichts ungesagt zu lassen – das ist wirklich mein kostbarstes Geschenk.

Damals in meiner Trauer konnte ich das natürlich noch nicht so sehen und empfinden.

In den Mails vieler Trauernder lese ich immer wieder von Traurigkeit und Selbstvorwürfen, weil noch so vieles ungesagt und ungefragt blieb. Auch dass es Momente im gemeinsamen Leben gab, wo man vielleicht nicht immer nett und einig im Umgang miteinander gewesen ist, oder nicht liebevoll genug zu seinem Partner war und sich dafür nun nicht mehr entschuldigen kann. Es sind Selbstvorwürfe, die Trauernde oft schwer belasten.

Aber glauben Sie mir, niemand muss sich am Ende Vorwürfe machen! Alles was in unserer Partnerschaft geschah, ob gute oder schlechte Zeiten, es gehörte zu unserem gemeinsamen Lebensweg und am Ende dieses Weges gehört alles was je geschah der Vergangenheit an und die bleibt in uns zurück, diese für einander empfundene Liebe überdauert alles.

Selbst ein Streit oder Zerwürfnis welcher Art auch immer, ist nun nicht mehr wichtig und von Bedeutung, alles ist vergeben und alles ist verziehen im Namen der Liebe. Was zu Lebzeiten geschah, musste so geschehen, wie es geschah, denn es gehört zu unserem ganz speziellen gemeinsamen Lebensweg mit unserem Partner. Zum Leben gehört ein Streit, eine Meinungsverschiedenheit genauso dazu, wie die glücklichen, harmonischen Zeiten.

Ein Schornstein der nicht raucht, zeugt von einem kalten Haus. Wie können wir die Wärme der Sonne schätzen, wenn wir das Gefühl der Kälte nicht kennen?

Die verschiedenen Meinungen in der Partnerschaft, sogar ein Streitgespräch, würzen die Beziehung wie das Salz die feine Suppe. In einer Beziehung, wo es keine Konflikte gibt, da stimmt etwas nicht, den Menschen sind in manchen Bereichen nun  mal unterschiedlicher Meinung und sollten sich gegenseitig eingestehen, sich ihre Meinungen gegenseitig auszutauschen.

Liebe duldet alles und Liebe verzeiht alles.

Manchmal frage ich mich, ob das die jungen Leute heute noch genauso sehen und empfinden? Was bedeutet ihnen eine Partnerschaft, was bedeutet ihnen Liebe wirklich? Viele Ehen sind in der heutigen Zeit leider nur von kurzer Dauer. Mich macht es immer sehr traurig, wenn ich glücklich verliebte Paare sehe, die irgendwann heiraten und beginnen, sich gemeinsam etwas aufzubauen. Doch nur ein paar Jahre später erfährt man plötzlich, dass sie nicht mehr zusammen sind und schon längst geschieden, einfach ihre Liebe aufgegeben haben. Die Partner werden ausgewechselt und die Liebe wird weggeschmissen, wie ein kaputtes Tischtuch, anstatt zu versuchen es zu reparieren. Mir zerreißt es oft das Herz, wenn ich von diesen Trennungsgeschichten höre und ich denke, was wir, die wir unsere geliebten Partner durch den Tod verloren haben, dafür gegeben hätten, wenn wir nur noch ein paar gemeinsame Jahre mit unserem Partner zusammen hätten verbringen dürfen. Oder kommt es daher, dass die Liebe in der heutigen Zeit nicht mehr die Bedeutung hat, die sie früher einmal hatte?

Wenn ich da so an meine Großmutter denke…

Sie hat mir oft davon erzählt, wie es  in jener Zeit war, als sie sich in meinen Großvater verliebte. Meine Großmutter war damals 23 Jahre alt und mit ihren Eltern zur Kirmes in ihrem Heimatdorf gegangen. Sie sah dort meinen Großvater mit anderen jungen Burschen am Tisch sitzen. Beide warfen sich unauffällige Blicke zu und hatten wohl auch gefallen an einander, doch dabei blieb es, mehr gab es nicht. Erst im  Frühjahr, beim Tanz in den Mai, sahen sie sich wieder. Großmutter durfte mit ihren Freundinnen zum Tanz in den Mai und Großvater war wieder mit den Burschen dort, mit denen er auch schon im vergangenen Jahr bei der Kirmes war. Zunächst wurden wieder nur heimliche Blicke getauscht und erst am Ende des Abends fasste er sich ein Herz, indem er meine Großmutter um einen Tanz gebeten hat.

Großmutter hat mir oft erzählt, dass ihr Herz dabei bis zum Hals geschlagen hat, Großvater sehr verlegen war und deshalb nur einen Satz gesprochen hat, nämlich als er sie am Ende des Tanzes zu ihrem Platz begleitete, fragte er sie ganz schüchtern, ob sie ihm ihren Namen verraten würde, weil er so gerne wissen möchte, mit welchem schönen Mädchen er getanzt hat. Großmutter nannte ihren Namen und er fragte, ob sie sich mal wiedersehen werden.

Wie es dann mit ihnen weiterging, weiß ich nicht mehr so genau, aber ich weiß, dass mein Großvater in einem Nachbardorf lebte, ungefähr 15 km weit entfernt. Ja, zur damaligen Zeit war es tatsächliche eine große Entfernung, die es zu überwinden galt, denn die Mobilität beschränkte sich meistens auf ein Fahrrad, sofern man zu den Glücklichen gehörte, die ein Fahrrad besaßen. Großmutter gehörte nicht zu ihnen und so blieb ihr bei all ihren Vorhaben, auch um sich heimlich mit meinem Großvater zu treffen, nichts anderes übrig, als einen Fußmarsch in Kauf zu nehmen. Natürlich war es hauptsächlich Großvater, der meine Großmutter an einem besprochenen Treffpunkt heimlich besuchte. Sie verbrachten nur kurze Augenblicke zusammen, um schüchtern ein wenig zu plaudern, bevor Großvater sich wieder auf seinen weiten Heimweg machte. Zärtlichkeiten austauschen gab es nicht, das war absolut unschicklich und tabu. Großmutter sagte einmal zu mir: „…und von wegen Küssen… ha, das gab es schon gar nicht, man wusste ja nicht mal, ob man davon in Erwartung kommen konnte.“ (also schwanger wurde)

In den rauen und kalten Wintermonaten, waren gegenseitige Besuche schier unmöglich. Es dunkelte früh, der Schnee lag oft meterhoch und die eisige Kälte ließ immer wieder Menschen erfrieren, die sich im Schneetreiben auf ihren langen Heimwegen verirrten. In dieser langen Winterzeit festigte nur der wöchentliche Briefwechsel ihr Vertrauen. Diese Briefe waren das Kostbarste und Schönste, was ihnen in dieser kalten und dunklen Zeit zukam und eine besondere Wärme vermittelte. Sie waren ein Beweis, ihrer Treue und ihren Empfindungen füreinander. Die kostbaren Zeilen wurden wieder und wieder gelesen, der Brief anschließend erneut sorgfältig ins Couvert gesteckt und bevor er in die eigens dafür verzierte Pappschachtel kam, wurde der Couvert, genau wie zum Schluss die Schachtel selbst, noch mit einem kostbaren Schleifchen verschnürt.

Erst im kommenden Jahr trafen sie sich zum Frühjahrsball wieder und nun begleitete mein Großvater meine Großmutter später am Abend nach Hause. Vor der Haustür angekommen sah mein Großvater meiner Großmutter noch eine Zeitlang stillschweigen in die Augen, wobei er ihre Hände mit den seinen fest umschlungen hielt. Diese Berührung war vorerst das intimste, was sie sich ungeniert teilen konnten.

Nun vergingen wieder lange Wochen, bis zum Tanz in den Mai und da fasste sich Großvater ein Herz. Er kam schon am späten Nachmittag zu meinen Urgroßeltern, überreichte meiner Urgroßmutter völlig schüchtern einen kleinen Blumenstrauß, ging zum Urgroßvater, gab ihm die Hand, schlug die Hacken zusammen und bat mit aufrichtigen Worten um die Hand meiner Großmutter, die bereits 25Jahre alt war. Mein Urgroßvater gab sein Einverständnis und nun durfte mein Großvater meine Großmutter ganz offiziell zum Ball führen und sogar öffentlich an ihrer Seite sitzen. Meine Großmutter sagte, sie erlebte in dem Moment den Himmel auf Erden, denn sie sei zum Ball geschwebt, so lieb hätte Großvater sie untergehakt. In der Dunkelheit der fortgeschrittenen Abendstunden brachte Großvater sie wieder nach Hause und nun gab es beim Abschied den ersten zarten Kuss, kurz und flüchtig, aber voller Liebe und wirklich zärtlich auf die Lippen gehaucht. Es vergingen noch zwei weitere Jahre, in denen ihre Liebe wachsen und gedeihen sollte, bevor sie heirateten. Mit gutem Gewissen vertrauten sie einander, sie wussten, sie waren einander versprochen.

Meine Großeltern waren über sechzig Jahre verheiratet und wann immer es für sie beide hieß, aus welchen Gründen auch immer, sich voneinander zu verabschieden, gingen sie im Guten auseinander. Sie kommunizierten oft ohne Worte miteinander, sie verstanden und vertrauten sich. Meinungsverschiedenheiten gab es sicherlich auch, aber man sprach sich aus und man verzieh sich liebevoll die Fehler, die in der Beziehung auch mal unterliefen.                                                          

Es herrschte eben eine andere Zeit. Großmutter betete meinen Großvater förmlich an und umgekehrt war es genauso. Sie beide liebten sich bedingungslos und wussten sie konnten sich voller Vertrauen auf einander verlassen, und sie wussten auch ohne überschwängliche Liebesschwüre, wie sehr sie sich brauchten.

 

Die Zeiten haben sich geändert. Oftmals frage ich mich, was ist aus dem Gefühl, das Liebe heißt, was ist aus der Liebe selbst überhaupt geworden? Manchmal denke ich, die Liebe ist heute genauso schnelllebig und oberflächlich geworden, wie das Leben selbst.

Es betrübt mich, zu sehen, wie Paare bei der kleinsten Erschütterung in ihrer Beziehung resignieren, anstatt konsequent um ihre Beziehung, die doch einst in Liebe begann, zu kämpfen.

Ist Liebe denn heute nichts Besonderes mehr, sondern nur noch ein leichtes Spiel im Vorbeigehen?

Was ist aus der Liebe geworden? Ich denke, im Grunde ist sie gefühlsmäßig noch genau gleich, wie sie es schon vor ewigen Zeiten war, nur die Einstellung und Erwartung hat sich geändert. Die Erwartungen sind zu hoch geschraubt und der Mensch ist ständig auf der Suche nach etwas Besserem. In Filmen und daily Soaps wird ein ständiger Partnerwechsel vorgelebt und normalisiert, die Sehnsucht nach immer neuen Abenteuern wird lustvoll  geweckt. Doch Liebe ist nicht nur lustvoll, Liebe ist auch Verantwortung, Vertrauen, Ehrlichkeit, Glauben u.v.m.

Liebe kann man nicht wie den Gezeitenwechsel leben. Liebe ist wie eine zarte Pflanze, die sich im Laufe der Jahre immer prächtiger entfaltet. Liebe darf man nicht so einfach wegschmeissen, wie es viele Paare in der heutigen Zeit tun.

Millionen Menschen trauern jeden Tag um ihre große Liebe, die ihnen durch den Tod und ohne jegliche Chance um darum zu kämpfen, genommen wurde. Was hätten sie nicht alles dafür getan, um für die große Liebe ihres Lebens kämpfen zu können.

Tja, und dann sind da eben jene Menschen, die die Liebe in ihrer Partnerschaft einfach sterben lassen, weil sie keine Sorgfalt um diesen kostbarsten Schatz der Menschheit tragen.                                                                                                     Sie hätten diese Chance, die Hinterbliebene nicht mehr hatten, nämlich um ihre Liebe zu kämpfen und ihre einst große Liebe mit ein bisschen Sorgfalt und Mühe weiter leben zu lassen.

 

In diesem Sinne,

herzlichst

Nati Merlin

 

 

                      

 

 

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