Geschichte eines kleinen Indianerjungen
Der Herbst war schon weit fortgeschritten, als der kleine Indianerjunge an einem sonnigen Nachmittag, dem Ruf seines Grossvaters folgte und ihn in seinem Tippi besuchte.Ein grosser Traumfänger hing über dem Bärenfell, das an der linken Zeltwand ausgebreitet auf der Erde lag. Hier war der Schlafplatz des Grossvaters und der Traumfänger sollte den Grossvater vor bösen Träumen schützen. Der Traumfänger, das dem Netz, eines Spinnengewebe gleicht, fängt die bösen Träume auf und hält sie zurück, um sie im Licht der Morgendämmerung auf zu lösen. Aber die guten Träume schlüpfen durch das Netz des Traumpfängers hindurch, um sich in die Seele des Schlafenden zu legen, auf das es ihm gut geht, er bei Kräften bleibt, sich seine Wünsche erfüllen und das Glück ihm ewig hold ist. Aufgeregt und voller Erwartung der Dinge, die auf den kleinen Indianerjunge wohl zukommen werden stand dieser im Zelteingang des Großvaters, Mit dem Stammeszeichen, welches auch der indianischen Segen des Friedens ist und einer gemächlichen Handbewegung lud der Alte seinen Enkel ein. Er deutete ihm an, sich ihm gegenüber auf die Erde zu setzen.
Ehrfürchtig und ohne zu zögern, folgte der kleine Junge den Weisungen seines Grossvaters und setzte sich im Schneidersitz auf die Erde, dem Alten genau gegenüber.
„Mein Sohn, der Herbst ist übers Land gezogen. Die Ernte des Lebens ist für mich eingebracht und der Winter hat sich bereits mit seinen ersten eisigen Winden aus dem fernen Norden angekündigt. Meine Zeit ist gekommen, da ich euch verlassen werde. Der Winter wird mich mit sich nehmen, noch ehe er sein weisses Kleid unten im Tal über Mutter Erde ausbreitet. Ich bin darauf vorbereitet und erwarte ihn schon längst. Doch bevor ich mit ihm ziehe, möchte ich dir etwas ein letztes Mal ein paar Dinge erklären und dir somit etwas sehr Kostbares zurück lassen. Ja, mein Sohn, der Tag ist nicht mehr fern, da wirst du unser Volk führen. Höre mir gut zu, ich werde dir nun als Abschiedsgeschenk unsere Weisheiten in deine Seele legen, denn du bist der Auserwählte unserer Vorfahren. Trage meine Worte in die Welt und lehre sie allen, die unserer Weisheit würdig sind und ihr folgen.“
Der kleine Junge lauschte immer wieder gerne den Erzählungen seines weisen Grossvaters, doch dieses Mal war alles anders. Der kleine Indianerjunge spürte dass etwas Seltsames um ihn herum geschah und er sah eine helle, strahlende Aura um seinen alten Großvater. Er wusste, dass nicht jeder diese Aura sehen konnte und diese auch nur in ganz besonderen Situationen sichtbar war. Sein Großvater war ein großer Medizinmann mit besonderen Fähigkeiten und schon früh weihte er seinen Enkel in sein großartiges Wissen ein. Ein jeder im Stamm wusste, dass eben dieser Enkel von den Ahnen bestimmt war, um das Volk zu schützen und es später einmal zu leiten.Doch heute war es so geheimnisvoll im Tipi des Großvaters, wie es der kleine Junge nie zuvor erlebt hatte. Deshalb wagte er kaum zu atmen, er fühlte, es lag etwas Seltsames, fast Unheimliches, zwischen ihm und dem Grossvater. Ja, er ahnte, nein, er wusste, an jenem Tag würde er seinen Grossvater ein letztes Mal sehen. Der Kleine spürte tiefe Traurigkeit in seinem Herzen aufsteigen und Angst machte sich in seiner kleinen Seele breit.
Der Grossvater hatte schon viele Winter im Land der Büffel erlebt und jeder im Stamm wusste, es nahte nun für den Alten die Zeit, dem Ruf des großen Geistes in die ewigen Jagdgründe zu folgen. „Wirst du sterben Grossvater?“ fragte der kleine Junge mit leiser, trauriger Stimme, „ sag bist du dann für immer tot?“, wollte der Kleine ängstlich weiter wissen. Der Grossvater schaute seinen Großsohn mit einem merkwürdigen Leuchten in den Augen an und setzte seine Rede mit ruhiger Stimme fort.
„Höre mir nur gut zu, mein Sohn, ich habe dich zu mir gerufen, um dir den kostbarsten Schatz deines Lebens ins Herz zu legen. Schau mir tief in die Augen, gehe dabei nun in dich, kehre zur Ruhe, wie ich es dich lehrte, stell keine Fragen, öffne dein Herz und nimm darin auf, was ich dir jetzt zu sagen habe.“
Der kleine Indianerjunge konnte sich dem leuchtenden Blick der Augen seines Grossvaters nicht mehr entziehen. Magisch verzaubert verlor sich der Kleine in Zeit und Raum und wie in Trance sog er die wohlig warm klingenden Worte seines Grossvaters tief in sich hinein. Er ließ alles über sich geschehen im tiefem Gefühl der Geborgenheit. „Es gibt keinen Tod, mein Sohn, dessen sei dir gewiss und lass dich nie eines anderen belehren. Fürchte dich nicht, das scheiden aus dieser Welt ist nur ein Wechsel zwischen den Welten. Ich gehe in das ewige Licht, ins Reich des Friedens und der Wind des Lebens wird meine Seele weit über das Land hinaus in die Freiheit tragen. Ich selbst habe den grossen Geist gebeten, mich zu befreien, da ich müde bin und meine Knochen kraftlos geworden sind. Ich wäre meinem Volk nur noch eine Last und zu nichts mehr zu gebrauchen, deshalb bin ich bereit zu gehen. Nun da ich alt bin, mein Weg hier endet, ist die Zeit gekommen, mein Erbe, welches meine Weisheit ist, an dich weiter zu reichen. Wann immer du mich brauchst, schaue in dein Herz, dort wirst du mich finden. Ich werde bei dir sein, auch wenn du mich körperlich nicht siehst. Suche mich nicht, aber sei dir gewiss, ich bin immer da, um dir zu helfen. Ich bin alt und müde, meine Kraft für das Dasein hier auf Mutter Erde ist längst verbraucht. Schon sehr lange fühle ich mich gefangen im Meer der Hyänen, die sich als Freunde um mich tummelten, doch nun werde ich frei sein. Du aber bist noch jung, du bist etwas ganz besonderes.“
„Aber, ich bin doch nur ein kleiner Indianerjunge, so ganz ohne Bedeutung, nichts weiter“; entgegnete der Kleine mit leiser, schläfriger Stimme. „Mein Sohn, wenn der grosse Geist gewollt hätte, dass du ein bedeutender König, oder Fürst wärst, hätte er dich auch an diese erste Stelle gesetzt. In die Herzen der Könige und Fürsten setzt er nur gewisse Wünsche und Pläne, die sie für ihr unbedeutendes Ziel der Machtergreifung brauchen. Aber in dein Herz pflanzte er Liebe, Güte, Barmherzigkeit, Verständnis und Verlangen nach ganz anderen Dingen, als die die Könige und Anführer sie haben. Sie glauben etwas Besonderes zu sein, aber du mein Sohn bist es tatsächlich. Dich machte der große Geist wirklich sehend. Du bist vielleicht arm an Gütern, aber du bist frei und voller Weisheit, denn dir ist es gegeben, zu wissen, worauf es ankommt. Du brauchst keinen Reichtum, du bist reich im Herzen. Dein Reichtum im Herzen ist grösser, als alle Reichtümer der ganzen Welt. Für eine Maus ist es nicht wichtig, ein Löwe zu sein, sie findet Glück in ihrer Welt, so sie weise ist. Doch verurteile nie deines gleichen, bedenke mein Sohn, ein jeder Mensch, auch der böseste, ist gut, aus seiner eigenen Sicht.“ „Großvater sag, bist du wirklich gar nicht traurig, das dein Leben hier unter uns zu Ende ist, hast du keine Angst zu sterben?“ versuchte der Kleine noch einmal zaghaft herauszufinden. „Was ist Leben mein Sohn? Es ist der Blitz eines Feuerfunken in dunkler Nacht, es ist der Hauch des Atems eines Büffels im Winter. Es ist der kleine Schatten, der über die Steppe huscht und sich selbst im Sonnenlicht verirrt. Das Leben ist nicht mehr als der verglühende Schein eines Kometen am Himmel, noch eher dieser zur Erde fällt ist sein Licht doch längst erloschen“
Der Grossvater malte mit einem kleinen Stöckchen einen Kreis in den sandigen Boden, ohne dabei den kleinen Jungen aus den Augen zu verlieren.
„Meine Seele kehrt dorthin zurück, woher sie vor vielen Wintern gekommen ist, damit schließt sich der Kreis wieder und es erfüllt sich, was sich erfüllen muss. Wir werden ewig in diesem Kreis bleiben, du erkennst es daran, dass du immer wieder an Plätze kommst, die du wieder erkennst, obwohl du glaubst, noch nie zuvor dort gewesen zu sein. Nur ein kurzer Augenblickt erweckt in dir das Gefühl, schon einmal dort gewesen zu sein. Und manchmal sagt dir dann dein Herz, dass du genau dort zu Hause bist.
Und sei vorsichtig, wem du dich offenbarst. Sei dir immer gewiss, dass du dich nicht all deinen Freunden mitteilen kannst. Sie werden dich wie Hyänen umlagern, doch wenn du ihnen dein Wissen mitteilst, werden sie dich dafür verlachen und verspotten und verachten, weil Missgunst ihr Herrscher ist. Denke immer daran, unter deinen engsten Freunden weilen deine grössten feinde, vertraue also nur jenen, die nicht mit ihrem Mund, sondern mit ihrem Herzen sprechen. Sei sehr aufmerksam, denn du wirst sie bei Zeiten an ihren Taten erkennen. Deshalb gehe sorgfältig mit deiner Weisheit um. Teile dich nur denen mit, die du für würdig hälst. Die Unwürdigen werden deine Sprache niemals verstehen. Folge stets der Sprache deines eigenen Herzens und lehre sie jenen, die dich ernst nehmen und die deiner würdig sind. Vertraue deinem Herzen, es hilft dir dabei, das heraus zu finden. Und wenn einst deine Zeit gekommen, wo dein letzter Winter anbricht, so fürchte dich nicht mein Sohn. Sei nicht wie jene, die weinen, sich vor dem Tod fürchten und bettelnd eine zweite Chance erflehen, um all jenes wieder gut zu machen, was sie zuvor in ihrem Leben alles falsch gemacht haben. Lebe dein jetziges Leben so, dass, wenn der große Geist dich in die andere Welt ruft, du dein Lied des Todes selber singst und wie ein Held hinüber in die ewigen Jagdgründe gleitest.
Mein Sohn, wir haben keine Schriften wie der weisse Mann, unsere Weisheit tragen wir in unseren Herzen, doch wir hinterlassen unsere Zeichen auch in den Felsen unseres Tales, um all jenen, die uns Folgen werden, unsere Botschaften zu übermitteln. Doch nur die Sehenden unter ihnen werden unsere Zeichen und unsere Sprache des Herzens zu deuten wissen und sie verstehen. Viele werden kommen, die an ihrer Weisheit glauben, doch sie wissen nichts.Mir aber, mein Sohn, legte der grosse Geist Weisheit ins Herz, mit der ich sehr sorgfältig umging, nicht jeder wusste davon oder ahnte etwas. Ich gebe sie nun ein letztes Mal an dich weiter. Überlass aber dem großen Geist, was die Welt verändert, ER wird auch dich verändern, so es die Zeit erfordert. Höre nur auf dein Herz und folge SEINEN Weisungen. SEINEN Weisungen zu folgen, gibt dir Kraft, die Schläge zu ertragen, die dein Herz zerschmettern sollen und ER macht dich taub denen gegenüber, die dir weh tun. ER macht dich stark, damit dich die Verletzungen deiner Feinde nicht mehr erreichen.Rufe den grossen Geist, wann immer du IHN brauchst, doch von den zerklüffteten Klippen musst du selbst fort rudern , so du sie aus purer Neugier aufsuchtest und dein Schicksal herausfordertest., was immer du tust, tue es mit ganzem Herzen, bedenke, das jene, die nur einen Fuss im Boot haben, auf dem besten Wege sind, in den Fluss zu fallen.Und mag es dich auch wundern, doch die schlechtesten Antworten auf deine Gebete sind oft das, wonach dein Herz verlangt.“Langsam machte sich Dunkelheit im Tipi breit und der Großvater wirkte erschöpft und müde. Der kleine Indianerjunge saß noch immer mit weit aufgerissenen Augen und schweigend dem Alten gegenüber, um die Worte seines Großvaters in sich aufsaugen zu können. Auch den Kleinen ergriff plötzlich eine wohlige Müdigkeit und er erlaubte es sich, sich ein wenig nach hinten an die Zeltwand zu lehnen. Die Stimme seines Grossvaters drang nun mehr und mehr aus weiter Ferne an sein Ohr. Die letzten Worte, die der Kleine vernahm, waren, dass er niemals Angst haben sollte, selbst dann nicht, wenn die Erde so krank sei, dass die letzten Tiere verschwinden würden. Noch bevor dieses geschehen würde, würden die Krieger des Regenbogens eingreifen, um das Werk des großen Geistes zu retten.
Der kleine Indianerjunge, fiel ob seiner Erschöpfung in einen tiefen Schlaf und als wieder erwachte, fand er sich alleine im Zelt. Er wusste nicht wie lange er so dagelegen hatte, es war inzwischen Nacht geworden. Doch trotz der Kühle der Nacht, fühlte er eine wohlige Wärme tief im Inneren seines Herzens. Obwohl er nun alleine im Tipi saß, wusste er, dass er nicht wirklich alleine dort war. Es spürte, dass der Großvater bei ihm war, auch wenn der Junge ihn nicht sah. Es war gut so und es war alles genauso, wie er es ihm kurz zuvor gesagt hatte.
Als das erste Heulen der Wölfe im hellen Licht des Mondes, in der dunklen Nacht erklang, da wusste der Kleine, dass der grosse Geist seinen Großvater nun hinüber in das Land des Regenbogens, weit hinter den Winden geholt hatte. Der kleine Junge fühlte tiefen inneren Frieden, denn er trug die Gewissheit in sich, dass sie sich dort eines Tages wiedersehen würden. Er wusste, wenn sich sein eigener Kreis des Lebens geschlossen hat, würde er seinen Ahnen ins wunderschöne Land hinter den Winden, am Ende des Regenbogens folgen. Aber bis dahin würde er die weisen Worte des Großvaters in alle Welt tragen.
In diesem Sinne
herzlichst
Nati Merlin