Der Engel in uns
An einem lauen Spätsommerabend Anfang September wanderte ich noch einmal durch die Felder unseres weiten, hügeligen Tales. Müde von der Tageslast setzte ich mich unter einer alten Linde, mitten auf einer grünen Wiese am Dorfausgang unseres kleinen idyllischen Dörfchens.
Selig und zufrieden mit mir selbst, lehnte ich mich dort an einen alten knorrigen Baumstamm, um in aller Stille noch ein wenig den herannahenden Abend zu geniessen. Der Abendwind streichelte mir mit einer sanften Brise angenehm warm übers Gesicht und vermittelte mir ein wohliges Gefühl der Geborgenheit. Noch leuchtete der Himmel strahlend blau, doch die Sonne senkte sich allmählich auf die Felder und fast hatte sie den Saum der Wälder am fernen Horizont erreicht. Es würde nicht mehr sehr lange dauern und die Nacht würde den Tag auslöschen. Die Luft roch nach frischer Erde, so wie es immer ist, wenn die ersten Felder gepflügt sind und der Herbst sich ankündigt.
Überall versammelten sich die Vögel, um sich für ihren langen Flug vorzubereiten zum Aufbruch ihrer Reise in wärmere Gefilde. Ein langer Flug, steht ihnen nun bevor, der sie wie jedes Jahr über den Winter in den Süden trägt. Ein Zwitschern und Gemurmel ertönte aus jedem Baum und Gebüsch, so als hätten sie ihre lange Reise noch genauer zu planen und ausführlich zu besprechen. Wespen und Käfer summten hier und da um meinen Kopf, doch das störte mich nicht. Ich genoss die Ruhe und den Abendfrieden, der über unserem kleinen Dorf lag. Das idyllisch anmutende und sanfte Abendlicht schenkte mir inneres Wohlbehagen. Indem ich meinen Gedanken erlaubte, ihre eigenen Wege zu gehen, verfiel ich ins Träumen.
Plötzlich nahm ich meine wirkliche Umgebung um mich herum kaum noch wahr. Ein seltsames Gefühl machte sich innerlich breit. Mehr und mehr schwanden meine Sinne, dabei verlor ich mich in Zeit und Raum. Ohne mein bewusstes Zutun, sah ich mich selbst plötzlich von oben. Ich sah mich unter der alten Linde sitzen und ich vernahm das Rauschen der Blätter deutlicher als je zuvor. Es war, als würde der Baum und manchmal sogar, als würde jedes einzelne Blatt in lieblichsten Tönen zu mir sprechen.
„Ja“, so vernahm ich die knorrige Stimme des alten Baumstammes an dem ich lehnte, „du hast sicher viel erlebt, aber weisst du, Erdenkind, deine Zeit hier auf Erden ist nur ein kurzer Atemzug. Dieser Atemzug ist so kurz, dass du dich wundern wirst, wenn er getan ist. Ich hingegen atme so langsam, dass ich seit nun mehr als über 350 Jahren hier stehe. So manch ein müder Gast weilte unter meinem Geäst und so manche Geschichte lies mir der Eine oder Andere aus seinem Leben zurück. Geschichten, die ich schweigend in meinem Geäst aufnahm und bis jetzt verschwiegen unter meiner rauen Rinde verborgen habe. Es sind traurige und fröhliche Geschichten, die ich mir anhörte und vieles regte mich immer wieder zum Nachdenken über euch wundersame Erdenkinder an.
Ich habe Feuersbrünste und Kriege erlebt, rauhe Winde und tosende Stürme haben versucht mich zu brechen. Wolkenbrüche versuchten mich nieder zu peitschen, Sommerglut drohte mir meinen Lebenssaft zu entziehen. Oh ja, ich wurde sehr oft in die Knie gezwungen, doch wirklich brechen ließ ich mich niemals. Wenn mein Laub mir auch manchmal schwer wurde und vom Wasser triefte, mein Geäst ob der tosenden Stürme knackte, doch ich hielt tapfer allen Unbilden des Lebens stand.
Und kam der Hebst mit Sturmgebraus, so gab ich ihm meine Blätter, mit dem Wissen, dass ich nicht für immer so nackt und kahl da stehen werde. Die Jahre meines Lebens lehrten mich, dass es wieder bessere Zeiten für mich geben wird und es eine Zeit gibt, wo neues Laub aus mir heraus geboren wird.
Und wenn ich hier auch fest verwurzelt in der Erde stehe, niemals meinen Platz wechseln kann, so ists recht, denn ich muss nicht reisen. Die Reisenden kommen ja zu mir und sie erzählen mir dann von der Welt und aus ihrem Leben.
Erst neulich ruhte ein altes Mütterchen unter meinem Laubdach und sie rührte mich in besonderer Form. Das Leben hatte tiefe Furchen in ihr sicher einmal wunderschönes Gesicht gezeichnet. Ihr Haar war schneeweiss und zu einem kleinen Knoten hinten im Nacken zusammen gebunden. Aber dennoch konnte ich ahnen, dass es einst in voller Pracht auf ihren Kopf saß und der sanftmütige Ausdruck ihres Gesichtes zeigte, dass diese Haarpracht einst ein wunderschönes Gesicht schmückte. Inzwischen war sie sehr alt geworden und ging ein wenig gebückt des Weges daher, bis sie zu mir kam um sich in meinem Schatten ein bisschen auszuruhen. Mit einem tiefen Seufzer liess sie sich gemächlich ins Gras fallen und sie legte sich vorsichtig, lang ausgestreckt auf den Rücken und schloss für einen kurzen Moment ihre Augen. Ich spürte, dass sie mir vertraute und sich ganz meinem Schutze hingab. Dann öffnete sie ihre Augen wieder und sie blinzelte durch mein Laubwerk zum Himmel hinauf. Ich hörte, wie sie zu Gott sprach, sie glaubte sich allein und ich machte mich nicht bemerkbar, ich wollte die Ruhe, den Frieden, den sie bei mir suchte nicht stören, nein, ganz sicher nicht und so versuchte ich mein Laub so still wie nur irgend möglich zu halten. Die Zeit lehrte mich, wie wichtig es für euch Erdenkinder ist, eurer Seele immer wieder einmal freien Lauf zu gewähren, so ihr euch danach sehnt. Es freut mich wenn ihr Ruhe bei mir findet und aus mir die Kraft schöpft, die euch in der Hetze des Alltags oft verloren gegangen ist. Weißt du, es wissen nur die wenigsten Menschen, dass wir Bäume ungeahnte Kräfte in euch wecken wenn ihr uns berührt. Ja, unsere Kraft und Stärke lassen wir bei jeder eurer Berührungen in euch hinübergleiten.
Diese alte Dame aber, wusste um unsere Kraftquelle, deshalb kam sie zu mir. Sie wusste um die Stille und den Frieden, den sie bei mir findet und so durfte ich hören, wie sie Gott vertrauensvoll ihr Leid klagte. Ihre alten Knochen waren müde, ihr Haupt war schwer von all den Kämpfen, die sie im Leben auszutragen hatte. Und noch etwas spürte ich, sie war so ganz anders, als all die anderen Erdenkinder, die zuvor unter meinem Laubdach ausruhten. Sie war nicht nur weise, wie es alte Erdenkinder manchmal sind, nein, dieses alte Mütterchen hatte eine ganz besondere Gabe. Sie konnte mit dem Hezen sehen. Ihre Lebensaufgabe bestand darin, für andere stark zu sein. Sie war schon bei armen hilfsbedürftigen Menschen, noch ehe sie die Alte um Hilfe bitten mussten. Sehend ist sie durchs Leben gegangen, sehend nur für andere. Nun war sie müde und ihre Kraft ging allmählich zu Ende.
Wie sie so da lag und zu Gott sprach, rührte es mich mächtig tief im innern meines dicken alten Stammes. Tja wenn ich auch nur aus Holz bin, es gibt Dinge, die gehen dem dicksten Holzklotz zu Herzen. So erging es mir, als ich diese Alte unter meinem Laubdach zu Gott sprechen hörte.
Tränen der Verzweiflung, Tränen tiefsten Empfindens liefen der Alten übers Gesicht und sie fragte Gott tatsächlich, nein sie flehte ihn förmlich an, sie bat ihn, ob er nicht noch mehr Engel in diese kalte Welt der Erdenkinder schicken könnte. Engel, die die erfrorenen Herzen und erstarrten Seelen der Erdenkinder wieder zu neuem Leben erwecken. Sie konnte und wollte all die Ungerechtigkeit, all die Zwietracht, die Missgunst und die Gehässigkeit unter den Erdenkindern nicht mehr ertragen. Gott sollte ihr eine Antwort geben, warum er so viel Unheil zu ließ. Er sollte ihr sagen, warum er es zu ließ, dass sich die Erdenkinder gegenseitig immer wieder verletzen, dass einer dem anderen ständig nur Leid zufügt, anstatt nach den Geboten des Herren zu leben.
Was war nur mit den Erdenkindern geschehen und wo war ihnen die Nächstenliebe verloren gegangen, die Gott seinen Erdenkindern einst eingepflanzt hatte. Immer wieder würden Gesetze über Gesetze geschaffen, klagte sie und dabei bedürfe es doch einzig und allein nur der zehn Gebote, um Frieden untereinander zu halten. Es mache sie müde und traurig diese Niederträchtigkeiten unter ihrem Volk noch länger mit ansehen zu müssen. Die Erdenkinder hätten doch längst den Blick für die wahren Werte des Lebens verloren. Und sie, die Alte, frage sich selbst nur allzu oft, ob sie allesamt es überhaupt noch verdient hätten, auf dieser wunderschönen Erde zu leben.
Auf einmal setzte sie sich aufrecht an meinen Stamm und faltete ihre alten, rauen und faltigen Hände zusammen und sprach mit Gott: “ Ja, mein Vater im Himmel, ich verstehe, eigentlich braucht es deine Engel gar nicht, denn sie alle tragen ihren Engel selbst in sich. Es ist die Liebe in ihnen, die diese Engel am Leben erhält. Die Erdenkinder geben ihrem Engel in sich nur leider keine Chance, seine Flügel auszubreiten. Ohne Liebe zerbrechen die Flügel der Engel in den Herzen der Menschen und sie verlieren deshalb ihre Kraft zum Fliegen um Liebe in die Welt zu tragen. Die Herzen der Erdenkinder erfrieren allmählich und die Seelen erstarren also, weil sie selbst die Engel nicht mit ihrer Liebe ernähren und mit ihrer groben Unart die Flügel der Engel brechen. Mit gebrochenen Flügeln müssen die Engel grausam sterben, weil sie ohne Liebe verhungerten.
Aber mein Vater im Himmel, kannst du den Erdenkindern nicht sagen, dass Engel mit gebrochenen Flügeln sterben werden, weil ihr Leben ohne Liebe erlischt? Wenn die Engel sterben, können sie den Erdenkindern keine Federn mehr als Zeichen ihrer Anwesenheit auf den Weg legen, die Erdenkinder verlieren ihren Halt und ihre Hoffnung ohne diese Zeichen der Engel. Und wenn die Erdenkinder schlussendlich nie mehr Federn finden, ist dann wirklich der letzte Engel gestorben? Hilf ihnen, mein Gott, das darf niemals geschehen! Hilf ihnen ihre Herzen zu öffnen, damit die Liebe gedeiht und die Engel in den Herzen der Erdenkinder wieder ihre Flügel ausbreiten und fliegen können. Hilf den Erdenkindern, damit der Funken Liebe, der noch in ihnen vorhanden ist wieder aufblüht und weiterlebt.
Mein Vater im Himmel, du schenktest den Erdenkindern das Leben, zeig ihnen, wie sie es leben sollen! Zeig ihnen, dass es Liebe braucht, nichts weiter als Liebe, um ihre Engel fliegen zu lassen.
Oh, mein Vater im Himmel, sag nicht, dass sie es nicht verstehen wollen, weil das Böse in ihnen so viel mächtiger ist! Sag, mein Vater im Himmel, haben die Erdenkinder denn wirklich keine Chance mehr, das zu ändern?“
Sie musste Gottes Antworten gehört haben, denn
Sie musste Gottes Antworten gehört haben, denn
Ja mein Vater im Himmel, du hast recht und ich weiß es, immer wieder erlebe ich, wie blind die Erdenkinder geworden sind. Sie sehen wirklich nur noch Geld und Reichtum, nur die materiellen Werte zählen für sie, ihre Welt ist vollkommen verdreht. Und die Erdenkinder, die noch Liebe in sich tragen, deren Engel im Herzen tatsächlich noch ihre Flügel ausbreiten können, die werden von den Bösen nieder geknüppelt, auf das auch dem letzten Engel irgendwann die Flügel gebrochen sind. Oh mein Vater im Himmel, bitte gib mir die Kraft, dass ich auf meine alten Tage wenigstens dem einen oder anderen Engel in den Herzen der Erdenkinder zum Leben, zum Fliegen verhelfe. Lass mich die Liebe, die diese Engel nährt, in den Erdenkindern neu erwecken. Vielleicht ist das noch eine letzte Chance, wenigstens einen geringen Teil deiner Erdenkinder zu rettten....ansonsten“, so sprach die Alte sehr traurig und leise weiter, „ansonsten, mein Vater im Himmel, ansonten bitte ich dich, erlöse mich so rasch wie möglich aus diesem Jammertal, wo es nur noch diese grausamen Erdenkinder hat, die ihren Engeln im Herzen den Flug in die Freiheit verwehren. Denn dann wird die Welt schon bald ganz ohne Liebe sein und darin möchte ich nicht mehr leben.“
Dann sagte die Alte nichts mehr, doch noch eine ganze Weile blieb die Alte stumm unter meinem Laubwerk sitzen und schaute starr in den Himmel.
In mir machte sich Hoffnung für euch Erdenkinder breit, denn die Alte stand mit einem zufriedenen Lächeln auf, dankte dem Vater im Himmel mit einer tiefen Verbeugung und einem Kopfnicken und ging befreit ihres Weges von dannen. Sie schien erleichter und zuversichtlich, das konnte ich wirklich selbst in meinem dicken Stamm fühlen, dass darfst du mir glauben. Mein feines Geäst fing ihre Hoffnung und Zuversicht auf und leitete es zu mir in meinen Stamm.
Dir mein Erdenkind erzähle ich das alles, weil ich spüre, dass auch du mit dem Herzen siehst und ich weiss, dass du dem Engel in deinem Herzen erlaubst, seine Flügel auszubreiten, damit er Liebe aufnehmen kann. Sicher wirst du alleine es nicht schaffen, die Welt mit deinem Engel im Herzen zu verändern, aber glaube mir, die Erdenkinder, die ihren Engeln im Herzen mit ihrer Liebe den Flug in die Freiheit schenken, werden sich finden und gemeinsam seid ihr stark. Euern Engeln wird nie jemand die Flügel brechen können, denn die Liebe, die sie nährt überwindet alles. Eure Engel tragen euch auf ihren Flügeln und ihr werdet gemeinsam einige Herzen der Erdenkinder erreichen, mit eurer gütigen und aufrichtigen Nächstenliebe, die ihr durch eure Engel, in euren Herzen tragt.“
So hörte ich, in einer anderen Welt versunken, dem alten Baumstamm zu, wie er mir diese Geschichte des alten Mütterchens erzählte. In tiefsten Träumen versunken verfolgte ich jedes Wort doch plötzlich berührte mich etwas an der Nase. Ich war völlig erschrocken ob dieser Berührung, doch es war nur ein herunter gefallenes Blatt. Ich setzte mich schlaftrunken aufrecht hin und im ersten Schreck wusste ich für einen Moment nicht, was mit mir geschehen war. Mir war, als sei ich aus einer anderen Welt zurück gekehrt. Ich stand auf und lehnte mich nun stehend an den dicken alten Stamm des Baumes. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als würde mein Körper mit einem hellen warmen Licht durchflutet. Ungeahnte Kräfte erwachten in mir. Nein, es war viel mehr was ich spürte. Ich trug plötzlich eine tiefe Hoffnung in mir und ich wusste, der Engel in meinem Herzen wird immer fliegen und den Erdenkinder die Liebe bringen, die sie nährt, egal, wie sehr sie mich selbst auch brechen werden mit ihrem Hass, mit ihrem Neid und ihrer Boshaftigkeit. Meinem Engel wird nie jemand die Flügel brechen, ich werde ihn nähren, mit meiner Liebe tief in mir. Er wird immer wieder hinaus ziehen, um Liebe und Frieden in die Welt zu bringen. Die Erdenkinder werden es spüren, so ich nur in ihrer Nähe bin.
Und noch etwas sah ich plötzlich sehr deutlich, die Wurzeln des Baumes, das was ihn nährt und am Leben erhält, diese Wurzeln saßen fest in der Erde. Aber die gleiche Strucktur, nämlich das Geäst des Baumes, die Krone, weist den Weg in den Himmel. Mir wurde mit einem Male klar, dass alles eine sichtbare und auch eine unsichtbare Seite hat. War es dann nicht vielleicht auch so bei den Erdenkindern, dass das Gute, das, was ihre Engel im Herzen nährt, nämlich die Liebe, also die Wurzeln des Guten, immer noch tief in ihnen steckt?
Ja, ich glaube, nein, ich weiß es, in allen Menschen steckt etwas Gutes!
Mit dieser Überzeugung zog ich frohen Mutes heimwärts.
Nun konnte es Nacht werden, in mir schlummerte die Gewissheit, dass nach jeder Nacht, egal wie dunkel sie auch sein wird, wieder ein neuer Tag erwacht. Und ich wusste noch etwas, es gibt sie, diese Engel in den Herzen der Menschen, die ihre Flügel ausbreiten und fliegen werden um ihre Liebe in die Welt zu tragen.
In diesem Sinne
herzlichst
Nati Merlin