Katastrophen und Schicksale
Aktuell sind wir erschüttert über das schreckliche Erdbeben, den Tsunami und die zur Zeit dieses entstehenden Berichtes, noch unklare Situation um die nuklearen Folgen durch die Explosion im AKW Fukushima. Es ist eine Naturkatastrophe mit noch immer nicht abzusehenden und nicht kalkulierbaren Folgen, geschweige denn, genaues Wissen über das Ausmass der bereits angerichteten Schäden im Land und wie vielen Menschen diese Apokalypse tatsächlich das Leben kostete.
Ein Aufschrei geht seit Freitag dem 11.März 2011 durch die Menschheit. Natürlich haben auch mich die grausamen Bilder via Fernsehen und Internet zu tiefst berührt. Welche Dramen sich dort in diesem Katastrophengebiet wohl im Einzelnen abgespielt haben mögen…?
Da steigen Menschen in Panik ins Auto, um vor den Wassermassen zu fliehen. Doch bis vor wenigen Augenblicken noch sichere Wege, die sie vielleicht an ein sicheres Ziel bringen würden, enden nun plötzlich im Nichts, weil das Erdbeben diesen Weg einige Kilometer weiter total zerstört hat. Sie sind den herannahenden Fluten der Wassermassen des Tsunamis hilflos ausgeliefert und schauen dem Tod nicht nur ins Auge, er wird sie mit sich reissen.
Eine Mutter trägt ihr Kind voller Verzweiflung und mit Todesangst in den Augen auf ihren Armen, um es vor den Fluten zu retten, von denen sie schon in Brusthöhe umspült werden. Sie hat keine Chance, denn das Wasser, welches einer gigantischen, schwimmenden Müllhalde gleicht, verschlingt auch sie, mit ihrem Kind. Es reist sie mit sich, dass Kind gleitet aus ihren Armen. Sie versucht instinktiv, trotz ihrer eigenen Todesangst immer wieder nach ihrem Kind zu greifen, doch die Natur, die hier eine der grausamsten Masken angelegt hat, ist mächtiger und trennt und verschlingt beide.
Menschen lehnen sich aus einem, wie man im Moment noch sehen kann, wunderschönen Wohnhaus weit aus den Fenstern. Sie schreien um Hilfe, man sieht Todesangst und Panik in ihren Gesichtern, sie schwenken verzweifelt weisse Tücher um irgendwie auf sich aufmerksam zu machen. Und sie werden gesehen, doch sie sind aufgrund der gespenstisch anmutenden Wassermassen, die mit rasender Geschwindigkeit immer weiter ins Landesinnere drücken, nicht zu erreichen! Nein, niemand kann diesen Menschen helfen. Kameras halten diese Bilder fest, diese verzweifelten Menschen in ihrer dramatischen Notlage werden in der ganzen Welt gezeigt. Es sind die letzten Bilder, die von diesen Menschen in dem Wohnhaus gemacht wurden, denn Sekunden später rissen diese braunen Müllwasserfluten dieses Haus mit samt den panischen Menschen am Fenster mit sich.
Ich möchte hier keine weiteren Schicksals-Beschreibungen abgeben, die mit der Katastrophe verbunden sind. Nein, um solche Schreckensbilder kümmern sich die Fernsehsender und Nachrichtendienste dieser Welt. Programmänderungen sind nun an der Tagesordnung, um immer und immer wieder die eingefangenen Szenen zu zeigen und Einschaltquoten zu toppen. Es scheint, als können die Zuschauer sich nicht satt sehen, an all diesen schrecklichen Bildern der grausamen Katastrophe - die enorm hohen Einschaltquoten der Sender sprechen für sich. Ein natürliches Interesse spreche ich niemandem ab, auch ich möchte wissen, was dort in Japan geschehen ist, doch picke ich mir gezielt die aktuellen Meldungen heraus. Ich will und muss nicht ständig dieselben Bilder der grausamen Szenarien vor Augen haben. Die Sensationslust vieler Zuschauer, kann ich nicht nachvollziehen. Mir sagte einmal jemand, der Mensch sei von Natur aus ein Voyeur und wie es scheint, da sich tatsächlich viele Menschen rund um die Uhr an solchen sich ständig wiederholenden Bildern ergötzen, mag wohl Wahres an jener Aussage sein. Sicherlich sind dies die Sorte Menschen, die an Unfallstellen auf den Autobahnen und anderen Plätzen zu den Schaulustigen gehören und Staus verursachen und Ambulanzen, Feuerwehr und Polizei bei ihren Hilfseinsätzen behindern.
Meine Gedanken sind ganz sicher aufrichtig und ehrlich bei all jenen, die in Angst und Panik dort in den verwüsteten Gebieten leben und um ihre vermissten Angehhörigen bangen. Und ich fühle mit denen, die um ihre Kinder, Mütter, Väter, Männer, Frauen, Brüder, Schwestern und sonstige Angehörigen trauern. Ich hoffe und bete für all die vielen, vielen Obdachlosen und für die, die aufgrund der zusammengebrochenen Infrastruktur, als weitere Folge der Katastrophe, Not, Krankheit, Hunger und Durst erleiden und der Kälte des dort noch herrschenden Winters ausgesetzt sind.
Weihnachten 2004 erreichten uns Bilder von dem Tsunami aus Südostasien. Es schien, als hielte die Welt für einen Moment den Atem an - doch es schien nur so.
Überall wurde zu Spenden aufgerufen. Das Gute im Menschen war sicherlich bewegt und die meisten gutwilligen Spender waren wirklich aufrichtig bereit, zu geben, was ihnen möglich war. Ich schrieb damals, ob all der Medienberichte und Bilder zu tiefst berührt, einen Brief, den ich weltweit an viele Menschen verschickte. Es war ein Aufruf von mir, nicht nur zum Spenden, sondern auch zu Besonnenheit, ein Aufruf für ein bisschen mehr Nächstenliebe, etwas mehr „Wir“ und nicht immer nur ICH, ein Aufruf, mit mehr Herz und offenen Augen durchs Leben zu gehen, weil unser Dasein auf Erden ein kurzes Gastspiel ist und im nächsten Moment alles was uns wichtig erscheint, bedeutungslos sein kann. Wir alle sitzen schliesslich im gleichen Boot und ob es uns recht ist oder nicht, wir steuern allesamt unabwendbar den gleichen Hafen an.
Und das alle Menschen vor Gott gleich sind, egal welche Hautfarbe wir haben, egal welcher Religion wir angehören, egal, wie reich oder arm wir sind, das sieht man bei Katastrophen, Kriegen, Krankheiten und wenn der Tod uns ereilt. Ich glaubte damals, als ich meinen liebevollen „Hallo-aufwachen-Brief“ schrieb, die Menschen haben nun endlich begriffen, denn die Natur, erhob doch grausam mahnend und drohend den schrecklichen Zeigefinger. Ich glaubte daran, mit meinem kleinen Brief, mit meinem verzweifelten Aufruf, etwas bei den Menschen bewirken zu können. Diese unzähligen Videoclips und Bilder in allen denkbaren Medien mussten doch die Menschen tief im Inneren getroffen und wachgerüttelt haben – so dachte ich damals zumindest. Doch es dauerte nicht sehr lange und schon lief wieder alles in der Welt seinen gewohnten Gang, der Alltag hatte die Menschheit, die nicht gerade in Südostasien lebte, wieder.
Mein Brief schien ebenfalls sehr schnell vergessen, wenn überhaupt gelesen. Niemals erhielt ich auch nur eine einzige Antwort, im Gegenteil, irgendjemand sagte mir damals ziemlich schroff, dass ich sowieso nichts ändern könne und meine Zeit nicht verschwenden solle, um zu versuchen, die Welt zu verändern. Als wüsste ich nicht selbst, dass ich die Welt nicht und erst recht nicht mit solchen Briefen, verändern kann. Vielleicht will ich sie auch gar nicht verändern, aber wenigstens ein bisschen wachrütteln zum Umdenken.
Mein Mann unterstützte mich damals bei meinem schriftlichen Apell wo und wie er nur konnte. Er war genauso bewegt wie ich und fand meine Idee mit diesem Brief genial. Er gab mir hilfreiche Tipps während des Schreibens. Mein Mann und ich hatten in den meisten Dingen stets die gleiche Auffassung, Ansicht und Vorstellung. Es war unsere gleiche Meinung und Auffassung über uns Menschen, der Glaube an Gott, das politische Geschehen und über Leben und Tod im Allgemeinen. Es waren immer wieder Themen die uns beiden viele lange und wunderschöne Nächte bescherte, in den wir oftmals bis in die frühen Morgenstunden diskutierten und gemeinsame Pläne schmiedeten, wie man Was verändern könnte. Das Herz meines Mannes schlug stets für die Schwachen und Armseligen auf diesem Planeten, für Kranke und hilfsbedürftige, für alte Menschen, Kinder und Tiere. Nach dem Tsunami in Südostasien sah ich ihn, wie er draussen in einer Ecke im Garten eine Kerze in unserer Gartenlaterne anzündete, zum Himmel schaute und für all die Betroffenen der Katastrophe und alle anderen Hilfsbedürftigen betete. Als ich ihn da so sah, war ich den Tränen nahe sehr gerührt. Mein Mann ahnte nicht, dass ich ihn beobachtete, doch dieses Bild hielt mich gebannt und so blieb ich für einen Moment am Fenster hinter der Gardine stehen und sah und hörte ihm für einen kleinen Moment zu. Noch heute erscheint mir dieses Bild immer wieder einmal vor meinem geistigen Auge.
Und das Geschehen in der Welt ging damals trotz der verherenden Katastrophe und aller bewegenden Fernsehbilder aus Südostasien, wieder sehr rasch seinen gewohnten Gang. Es gab zwar riesige Spendenfluten, doch es zeigte sich alsbald, dass die Verteiler dieser Spenden nicht jeden von der Katastrophe Betroffenen für den Empfang der Hilfsmittel prädestiniert hielten. So machte man allein auf Sri-Lanka Unterschiede; die Singalesen, die Mehrheit der Insel bekamen damals Hilfe und die nicht gern gesehene Minderheit der Tamilen mussten selbst zu sehen, wie sie mit der Katastrophe, die sie gleichermassen ereilt hatte, zurecht kamen. Ob sich diese ungerechte Situation später noch änderte, entzieht sich meiner Kenntnis. Ohnehin bin ich immer wieder verwundert, dass Spenden nicht in der Grössenordnung ihr Ziel erreichen, wie es zunächst im Spendenaufruf angekündigt wird. Na ja, seit Menschengedenken bereichern sich die Reichen und die Regenten immer wieder an dem wenigen, was den Schwachen zur Verfügung steht oder gar bleibt. Es wird aus allen möglichen Quellen auf Gedeih und Verderb Kapital geschlagen.
So wird es sicherlich auch in Japan geschehen. Die Schwachen werden noch mehr geschwächt und die Reichen werden eine lukrative Einnahmequelle bei der Verteilung der Spenden und im Wiederaufbau finden. Werden die Menschen, die sich heute mitfühlend und von der Katastrophe geschockt zeigen, umdenken? Ich glaube wohl kaum. Der Mensch scheint nicht so lernfähig, wie es immer gesagt wird. Japan ist weit weg und unsere Familien, unsere Häuser und Hütten sind ja nicht betroffen.
Aber ich denke, wir Trauernde wissen; jeder einzelne Mensch kann und wird sein eigenes Erdbeben, seinen eigenen Tsunami, seinen eigenen Gau erleben. Wir, die wir unsere liebsten Verstorbenen verloren haben wissen, dass niemand davor fliehen kann. Unser Leben ist zeitlich sehr begrenzt und Katastrophen ereilen uns schneller, als wir denken und erahnen. Sie kommen zudem ohne Ankündigung, plötzlich und aus heiterem Himmel. Japan zeigt uns heute ganz aktuell, dass sich unser Leben unwiderruflich, von einer Sekunde zur anderen, grausam verändern kann.
Zum Schluss noch folgendes Zitat von Albert Einstein, welches ganz sicher nichts an seiner Aktualität verloren hat:
„Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter. Der Mensch beherrscht die Natur, bevor er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen.“
In diesem Sinne
herzlichst Nati Merlin